An Essay on apocalyptic folklore in social media, published with works by other writers and artists in Das ist der Regen. Der Regen regnet. on Verlag Marian Arnd.

Editing by Johannes Listewnik.




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%% #cleanup/prio1 No rain but thunder, and the sound of giants - 201009

Ideen fĂŒr andere Texte

Die zunehmenden Reaktionen des Ökosystems auf die Expansion des Menschens stellt das expansive Fortschritts-Modell in Frage

Seit dem PflĂŒgen der ersten Felder galt das Streben nach GlĂŒck durch Expansion und Ausbeutung als zukunftsweisendes Erfolgsmodell. Doch aktuelle Entwicklungen (Anthro-pozĂ€n) bezeugen, dass diese Auffassung von individualistischer SouverĂ€-nitĂ€t höchstwahrscheinlich ein historisch begrenztes PhĂ€nomen ist. Mit wachsender Geschwindigkeit wird der moderne Mensch in der Wahrneh-mung des Kollektivs zu etwas, das sein konnte, aber nicht fĂŒr immer sein muss. Die “Krone der Schöpfung” wird kontingent.

Das ist auf jeden Fall eine Quelle von Unsicherheit

Es gibt eine wachsende Kluft zwischen den utopischen Versprechungen der Fortschritts-Optimisten und den desolaten Ergebnissen vergangener Fortschritts-Euphorien

Diese Entwicklung ist eine Herausforderung fĂŒr die Vertreter des techno-logischen Fortschrittsoptimismus, denn sie verweist auf die wachsende Differenz zwischen versprochener Zukunft und erlebter RealitĂ€t. Die großen Utopien der Nachkriegszeit erscheinen heute zugleich visionĂ€r und altbacken. Sie reprĂ€sentieren TrĂ€ume eines durch Technologie und Planung gestalteten Habitats, welches wenig mit der entfesselten Unordnung unseres physisch-virtuellen Lebensraumes im Jahr 2020 gemein hat. [Vgl.: index1.html?nostalgia_en.htm] Die Helden der Tech-Branche beantworten diese uto-pische Kater-Stimmung mit einer Mischung aus Pragmatismus und Fatalis-mus.

Utopische Versprechungen existieren weiter, sind aber immer unglaubwĂŒrdiger

Elon Musk vertritt einen Retro-Fortschritts-Optimismus

Elon Musk beispielsweise demonstriert sein unternehmerisches Geschick darin, die Angst vor der Apokalypse als einen neuen Markt zu er-schließen. Seine zahlreichen, vorgeblich mit jugendlichem Leichtsinn ge-starteten und benannten Projekte. [Auswahl: “The Boring Company” - ein Tunnel zur Vermeidung von Staus im Berufsverkehr der Bay Area, “Gigafactory” - Eine Fabrik fĂŒr neuartige Batterien, “Hyperloop” - magnetische Hochgeschwindigkeits-Transportröhren, „Not a Flamethrower“ – Ein Flammenwerfer als Spielzeug] wirken wie eine trotzige Geste in Rich-tung des aufziehenden Unwetters der aufgestauten utopischen EnttĂ€u-schungen. Die von den Apollo-Missionen der 1960er inspirierten SpaceX-Raumkapseln, der scheinbar dem Film ZurĂŒck in die Zukunft aus den 1980ern entsprungene Tesla SUV, sowie die von Musk getragenen Retro-Lederjacken vermitteln die nostalgisch-utopische Botschaft: “Wir haben es immer noch drauf!“

Silicon Valley-GrĂ¶ĂŸen wie Peter Thiel sichern sich mit großem Aufwand privat gegen aufkommende Verwerfungen ab

Peter Thiel (neben Musk einer der GrĂŒnder von PayPal) prĂ€gte bereits von 10 Jahren eines der bekanntesten Zitate zum Ausmaß der kollektiven utopischen EnttĂ€uschung: “We wanted flying cars, instead we got 140 characters” [Vgl.: peter-thiel-newyorker]. KĂŒrzlich gelangte Thiel erneut in die Schlagzeilen, als Vertreter fĂŒr eine im Silicon Valley zunehmend beliebte „Exit-Strategie“: Prognosen zur globalen Sicherheit im Falle ungebremster ErderwĂ€rmung identifizieren Neuseeland als sichersten Hafen fĂŒr die un-sichere Zukunft. Mit fatalistischer Konsequenz erwerben Superreiche wie Thiel deshalb ausgedehnten Grundbesitz in Neuseeland und fĂŒhren vor Ort zu Kontroversen ĂŒber die Migration von MilliardĂ€ren. [Vgl.: silicon-valley-new-zealand-apocalypse-escape]

Apokalyptische Social Media ErzĂ€hlungen dienen als ProjektionsflĂ€che und Kommunikationsmittel fĂŒr die kollektive Suche nach dem richtigen gesellschaftlichen Umgang mit existentiellen Bedrohungen

Jedoch die erfolgreichsten Zukunfts-Memes scheinen gar nicht die be-drohlichen Aussichten an sich zu thematisieren, sondern deren Rezeption durch den (in Ermangelung eines eigenen Raumschiffes geerdeten) Durch-schnittsmenschen. Es wirkt, als ob die vernetzte Menschheit im Spiegel-bild der Bildschirme sich selbst beim Hadern mit der Zukunft betrachtet, erfĂŒllt von gemischten GefĂŒhlen, die von voyeuristischer Neugier bis zur masochistischen Schadenfreude reichen. Digitale Folklore beobachtet die Beobachter des donnergrollenden Hori-zonts und erst die dabei erzeugte Distanz erlaubt den humorvollen Um-gang mit Katastrophen. Dies erinnert an das Konzept der „Beobachtungen 2. Ordnung“, denen Niklas Luhmann ein besonderes Potential fĂŒr Erkennt-nisgewinn zusprach. [Vgl.: Niklas Luhmann: Soziologische AufklĂ€rung 5. Konstruktivistische Perspektiven, West-deutscher Verlag: Opladen 1990, S.16 ] Diese in den Apokalypse-Memes betriebene Selbs-treflektion scheint die interessanteste Funktion digitaler Folklore zu sein. WĂ€hrend das Donnergrollen lauter wird, bildet das digitale Lagerfeuer ei-nen Resonanzraum fĂŒr den Abgleich der persönlichen GefĂŒhle mit der Stimmung des Kollektivs.

Das ist eigentlich ein ganz wichtiger Punkt, kann das Ganze auch als etwas positives soziales wirken lassen

Der Future Compass ist ein Beispiel fĂŒr ein apokalyptisches Meme, das sich trotzdem mit Kontingenz-Denken bzgl. Zukunft beschĂ€ftigt

Dass digitale Folklore vielschichtigere Vorstellungen von Zukunft zu bieten hat, als die eindimensionale Perspektive des Doomers, zeigt der Future Compass. Dieses Memes stellt verschiedene Zukunfts-Szenarien nebeneinander, einsortiert in ein zwei-achsiges Koordinatensystem. Die X- und Y-Koordinaten bilden die wesentlichen QualitĂ€ten möglicher ZukĂŒnfte als Gegensatzpaare ab: Sicherheit vs. Gefahr, Low-Tech vs. High-Tech, Zentralisierung vs. Dezentralisierung, Entschleunigung vs. Beschleunigung, Freier Wille vs. Schicksal. Die in diesem System reprĂ€sentierten Szenarien formen einen Möglichkeitsraum der Zukunft, dabei erscheint jedes Szenario fĂŒr sich genommen als möglich, die Nachbarschaft anderer Szenarien zeigt aber, dass es nicht so kommen muss. Der Future Compass betont damit die Kontingenz der Zukunft, anstatt alternativlose Vorhersagen zu formulieren und motiviert zu neuen Fragestellungen: Wie viel Wohlstand und Sicherheit mĂŒsste geopfert werden, um eine Entschleunigung der Gesellschaft umzusetzen? Gibt es lebenswerte Alternativen zu einer auf Hightech und Zentralisierung basierenden Zukunft? Und wer möchte eine Zukunft namens Pathological Moonshot Daddy Populism?  Das Future Compass-Meme bildet ein eingĂ€ngiges und unterhaltsames Abbild von aktuellen Diskursen zu Zukunftsfragen. Verglichen mit Choose-Your-Player und Doomer scheint dieses Meme damit die differenzierteste als auch konstruktivste Form zukunftsbezogener Selbstreflektion zu transportieren. Ein lĂ€ngerer Blick auf den Future Compass offenbart jedoch Indizien fĂŒr eine ideologische Korruption, die eine NĂŒtzlichkeit als populĂ€re ErzĂ€hlung zum Zwecke der StĂ€rkung und Inspiration von Gemeinschaft in Frage stellt. [ Vgl.: Joanna Pope: Compass for utopian Synthesis, 2020, watch?v=CfF-ZFfVQ50]

#elab/atom AO🌊 Das ist ein cooles Beispiel. Wo passt es hin?

Gaming von Zukunftsdenken fĂŒhrt zu einer Überbetonung von individualistischer Choice

Durch formale “Gameification” verwandeln die dargestellten Memes unsichere ZukĂŒnfte in Situationen individueller Entscheidungen. [ Vgl.: Joanna Pope 2020] Das Choose-Your-Player-Meme zeigt dies am offensichtlichsten, aber auch die im Doomer-Meme enthaltene Entscheidung fĂŒr die Black Pill und das im Future Compass angebotene Inventar möglicher ZukĂŒnfte suggerieren, dass der Umgang mit Zukunft primĂ€r eine Frage von richtigen Entscheidungen wĂ€re. Diese Umetikettierung eines Möglichkeitsraumes zu einem Entscheidungsraum hat weitgehende Konsequenzen. Das Angebot
exklusiver Auswahloptionen suggeriert, dass es auf die komplexen Fragestellungen nur sich gegenseitig ausschließende Antworten geben könne, obwohl gerade die hybriden ZustĂ€nde in RealitĂ€t von Bedeutung sind. Beispielsweise belastet die Gleichzeitigkeit des AusfĂŒllens der im Choose-Your-Player-Meme dargestellten Rollen viele in der Covid19-QuarantĂ€ne am Meisten. Die Black Pill wirkt als selbsterfĂŒllende Prophezeiung, denn sie zieht eine kategorische Trennlinie zwischen Hoffnung und Realismus. Und hybride ZukĂŒnfte, die das Raster des Future Compass ĂŒber-
schreiten und gegensĂ€tzliche Szenarien verbinden, existieren bereits heute und behindern politisches Engagement. [ Siehe Robert Biel: The Entropy of Capitalism, Haymarket Books 2013] DarĂŒber hinaus unterschlagen die Memes einige Handlungsoptionen: Die QuarantĂ€ne-Charaktere ignorieren die Möglichkeit, trotz QuarantĂ€ne die eigene Komfortzone zu verlassen, um anderen Menschen zu helfen. Der Doomer-Kosmos sieht als Alternative zu egoistischem Pessimismus ausschließlich die Karikatur des pauschal optimistischen Bloomers. Der Future Compass weist auf extreme Zukunfts-Szenarien, die statt moderaten Antworten nur radikale Ablehnung oder Zustimmung erlauben. [ Vgl.: Joanna Pope 2020] Hier zeigt sich die ideologische
Korruption dieser Memes: Probleme als Entscheidungen zu
beschreiben suggeriert, dass Ursachen und Lösungen im Bereich des individuellen Willens zu suchen wÀren. Systemische Ursachen und kollektive Lösungen werden dabei ignoriert. Der Umgang mit Pandemien, Depressionen und dem Klimawandel wird zu einem Einzelkampf stilisiert, den nur die WillensstÀrksten gewinnen könnten.

#elab/add Individualistische Anpassung an prekÀre Lebensbedingungen verhindert kollektiven Widerstand da gehört das hin denke ich. Oder auch nicht? muss vielleicht DOCH differenzieren zwischen Concepten und Gedanken..

Ironie macht Internethumor anfĂ€llig fĂŒr rechte Ideologie und behindert Agency

Digitale Folklore scheint daher ein unzuverlĂ€ssiger Ratgeber fĂŒr unsichere Zeiten zu sein, wenn ihre Ironie sie anfĂ€llig fĂŒr ideologische Unterwanderung macht, individuelle WillensstĂ€rke SolidaritĂ€t gegenĂŒbergesetzt wird und sie so noch tiefer in eine medial betĂ€ubte Hilflosigkeit angesichts sich anbahnender Krisen hineinfĂŒhrt. Digitale wird Folklore auf diese Weise zum Werkzeug einer “Kolonialisierung” der Gegenwart durch die Vergangenheit[ Vgl.: Jerry Diethelm: De-Colonizing Design Thinking, The Journal of Design, Economics, and Innovation Vol. 2 No.2, 2016, S. 166] werden, indem historisch ĂŒberholte Ansichten und Konzepte unter dem Deckmantel subkultureller Avantgarde im Diskurs bleiben und sich als progressive Lösungen ausgeben. Im US-PrĂ€sidentschaftswahlkampf von 2016 wurde das Internet zu einem Schlachtfeld der Verbreitung von Memes in UnterstĂŒtzung der Kandidaten. Die rechte Internetszene rĂŒhmt diese Auseinandersetzung als The Great Meme War [ Vgl.: memes-4chan-trump-supporters-trolls-internet-214856] die Protagonisten der Kampagne bezeichnen sich als “Veteranen”.[ Vgl.: “My Dad, the Facebook Addict”, 2019, watch?v=g2AtLh2mjNI] Die subtile Infiltration des Mainstreams mit durch Humor und Ironie getarnter Ideologie ist eine subversive Diskursstrategie der neuen Rechten. Anderen Interessensgruppe hingegen gelingt sie selten: Dass Botschaften, die sich gegen Pauschalisierungen und Stereotype richten, weniger leicht zu erfolgreichen Internet-Witzen verarbeitet werden können, ist einleuchtend.[ “The Left can’t meme” bezeichnet die angebliche Überlegenheit von rechtem Humor im Internet. Vgl.: right-wing-groups-are-training-young-conservatives-to-win-the-next-meme-war]

Dystopische Social-Media-ErzĂ€hlungen haben so viel Reichweite, dass sie selbst den Ausgang ihrer Prognosen beeinflussen, sie sind selbsterfĂŒllende Prophezeihungen

Auch in frĂŒheren Zeiten hat Folklore den Umgang mit Bedrohungen reflektiert und beeinflusst. Die aktuelle Situation unterscheidet sich jedoch von prĂ€modernen Sorgen um gute Ernten, denn die Geschichten, die heute als digitale Folklore geteilt werden, sind “Wettermaschinen”, sie produzieren selbsterfĂŒllende Prophezeiungen.

bad news amplify themselves Das ist ein ziemlich wichtiger Zusammehang, gehört irgendwo hin 2023-01-09 added

Memes sollten zum kollektivierenden Teilen von Ecological Grief genutzt werden, um die Individualisierung zu ĂŒberwinden

Der entscheidende Schritt in diesem Prozess ist das Anerkennen und Teilen von Trauer angesichts der bereits entstandenen und noch bevorstehenden Verluste, denn erst aus dieser Kollektivierung von Trauer kann neue Hoffnung und Motivation fĂŒr Engagement entstehen. Einzelne Memes ĂŒber die Zukunft vermitteln oftmals eine empfundene Hoffnungslosigkeit, doch die Beobachtung dieser (Einzel-)Beobachtungen im Gesamtbild kann Individuen in globaler Gemeinschaft verbinden und lĂ€sst einen virtuellen Ort fĂŒr gemeinschaftliche Trauerarbeit entstehen. Auf diese Weise kann digitale Folklore dazu beitragen, den Ecological Grief zu ĂŒberwinden und hoffnungsvolle ErzĂ€hlungen entstehen zu lassen: ErzĂ€hlungen vom Ende eines egoistischen Freiheitsbegriffes und dem Beginn einer neuen Form von aus der Krise entstandener SolidaritĂ€t. Damit Memes diese positive Funktion erfĂŒllen können und nicht zum als „Internethumor“ verharmlosten Brandbeschleuniger fĂŒr destruktive Weltbilder werden, muss die Bedeutung von Memes als Medium fĂŒr kollektive Ängste gesellschaftlich reflektiert werden. Die ErzĂ€hlungen vom Ende dieser Welt mĂŒssen geteilt werden, denn sie sind die ErzĂ€hlungen vom Beginn der nĂ€chsten Welt. [ Nach Helen Nisbet, vgl.: the-clearing-how-to-live-together-once-sea-levels-rise-and-global-economy-collapses]

#elab/add shared grief can be a force multiplier das muss irgendwo hin, könnte ja genau eine positive Vision fĂŒr das Ganze sein


Date: 2022-08-09 2022-W33 #note/output/ao/published

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